Die Einzigartigkeit
Der jüdische Witz nimmt in der Weltliteratur eine
Sonderstellung ein. Er ist tiefer, bitterer, schärfer, vollendeter,
dichter, und man kann sagen, dichterischer als der Witz anderer
Völker. Ein jüdischer Witz ist niemals Witz um des Witzes willen,
immer enthält er eine religiöse, politische, soziale oder
philosophische Kritik. Er ist faszinierend, denn er ist Volks- und
Bildungswitz zugleich, jedem verständlich und doch voll tiefer
Weisheit.
Durch Jahrhunderte war der Witz die einzige und
unentbehrliche Waffe des sonst waffen- und wehrlosen Volkes. Es gab
- besonders in der Neuzeit - Situationen, die von den Juden seelisch
und geistig überhaupt nur mit Hilfe ihres Witzes bewältigt werden
konnten. So lässt sich behaupten: Der Witz der Juden ist identisch
mit ihrem Mut, trotz allem weiterzuleben.
Historisches
Man geht davon aus, dass die ersten "Badchonim" -
fahrende Volkssänger und Komödianten - auch die Begründer des jüdischen
Volkswitzes waren. In der Heidelberger Universitätsbibliothek kann man heute
eine Miniatur aus dem 14. Jahrhundert besichtigen, die den Badchen und
Minnesänger Süsskind von Trimberg in einer lebhaften Unterhaltung mit einem
christlichen Fürsten darstellt. Süsskind trägt die typische Tracht, den Bart und
den spitzen Judenhut, den die Juden damals tragen mussten.
Diese Badchonim, manchmal auch " Lejzim" genannt, waren in der
Thora gebildet und haben auch den Talmud gelesen. Sie konnten daraus
Sprichwörter zitieren und an die Schriften anknüpfen. So haben sie durch ihre
witzigen und satirischen Erzählungen das Volk gleichzeitig unterhalten und
belehrt. Zunächst durften sie nur auf Hochzeiten oder zum Purimfest auftreten.
Es gab Zeiten, da war Badchen ein Ehrenberuf, dann wieder, besonders in Zeiten
von und nach Pogromen, riefen die Rabbiner gegen "dieses Unwesen" auf. Aber in
Ruhezeiten erfreuten sie die Menschen und stifteten Frieden zwischen den
Feinden.
Definition? Analyse?
Carlo Schmid schreibt: "Der jüdische Witz ist heiter hingenommene Trauer
über die Gegensätze dieser Welt. Er zeigt immer wieder auf, dass - eben in
dieser Welt voller Logik - die Gleichungen, die ohne Rest aufgehen, nicht
stimmen können."
Sigmund Freud vermochte zwar sein Lebtag keinen einzigen Patienten mit Hilfe
seiner Psychoanalyse zu heilen, er erkannte aber mit genialer Hellsicht: "Der
Witz ist die letzte Waffe des Wehrlosen."
Salcia Landmann hat den Ursprung des jüdischen Witzes
erforscht. Sie zeigt in ihren Büchern frappierende Beispiele auf und folgert
überzeugend, dass er nur unter dem Druck unrechtmäßigen Leidens, das man
erdulden musste, gepaart mit der umfassenden Talmudbildung, die es möglich
machte, jeden Lebensbereich gründlich und kritisch-sarkastisch auszuleuchten,
gedeihen konnte. Beides Bedingungen und offenbar unentbehrliche Voraussetzungen
für den einzigen Volkswitz, der diese gewaltigen Dimensionen in sich trägt.
Allgemeines
Wenn von jüdischen Witzen die Rede ist, sind viele
Menschen der Meinung, es handele sich dabei um Witze über Juden. Die meisten
dieser für den Geist und das Wesen des jüdischen Volkes wenig schmeichelhaften
Scherze sind jedoch nichts weiter als spöttische Verulkungen, die sich in Niveau
und Qualität wesentlich von dem unterscheiden, was den echten jüdischen Witz
ausmacht: Er stellt die Regeln des Lebens von innen her in Frage. In vielen
dieser jüdischen Witze steckt etwas Spezifisches, das in Dimensionen führt, vor
denen die Witze anderer Völker halt machen.
Da steht das Gesetz, unerbittlich genau in seinen
Vorschriften, das ganze Leben durchflutend. Aber da ist auch das Leben selbst
mit all seinen Ansprüchen und Notwendigkeiten, mit seinen Genüssen und
Verlockungen. Und da gibt es abseits vom Gesetz das Wissen, dass das Leben seine
Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten und Eventualitäten hat. Und letztendlich ist
da auch die Schwachheit des Menschen, der Gesetz, Leben und sich selbst vereinen
muss. Da hilft nichts anderes als Ironie. Wie soll man denn sonst all die
kleinen Treulosigkeiten dem Gesetz gegenüber verantworten und die unerwarteten
Veränderungen der Lebensregeln hinnehmen? Und was nützt einem überhaupt das
Wissen um die Regeln, wenn die Natur doch immer wieder vergisst, konkrete
Situationen nach den Regeln einzurichten? Ist man denn nicht der
Hereingefallene, wenn man das Wahrscheinliche mit dem Existenten gleichsetzt?
Jeder Mensch weiß, dass Hunde, die bellen, nicht beißen. Aber - weiß es der Hund
auch?
Der Stolz auf all die Logik, auf die Macht des Geistes steckt
- bei aller Selbstironie - in der Geschichte des Reisenden, der im
Eisenbahnabteil den Namen seines Gegenüber auf Grund der Überlegungen des
Reisezieles, des Alters und der Kleidung "ausrechnet" und so auf sicherem Weg
vom Augenscheinlichen auf das Abstrakte kommt.
Genau das Gegenteil bietet uns diese hübsche Variante:
Zwei Juden im Bahnabteil. Der eine stellt sich
vor: "Gestatten Sie, Mandelbaum." "Mandelbaum, Mandelbaum", sagt sein Gegenüber
nachdenklich. "Warten Sie, der Name kommt mir so bekannt vor... Sagen Sie, sind
Sie nicht so ein kleiner Dicker mit einer Glatze und einem roten Spitzbärtchen?"
Der Spott gebührt aber demjenigen, der glaubt, immer nur
Schlauheiten kombinieren zu müssen (und der doch im Grunde entschuldigt ist),
denn er weiß, dass er in einer Welt lebt, in der kaum noch jemand eine Tatsache
einfach hinnimmt und man einen Konkurrenten mit nichts sicherer in die Irre
führt, als mit der Wahrheit selbst:
"Moische! Wohin fährst du?" "Nach Wien. Ich
will mich ein paar Tage erholen." "Moische, was soll das? Immer wenn du sagst,
du fährst nach Wien, fährst du in Wahrheit nach Prag, um Geschäfte zu machen.
Zufällig weiß ich aber, dass du heute wirklich nach Wien fährst. Wozu lügst du
also?"
Die nächste Paradoxie steckt im Verhältnis der
Größenordnungen, die einen Sachverhalt in sein Gegenteil umschlagen lassen
können:
Wenn ein Kaufmann einer Bank eine Million
schuldet, hat diese ihn in der Hand; wenn er dagegen 100 Millionen schuldet, hat
er die Bank in seiner Hand...
Den doppelten Boden erkennt man in der Geschichte über den
religiös ungebildeten Dorfjuden. Der Spott über ihn wird vom Hohn über den allzu
gebildeten Spötter übertönt, der lächerlicherweise von einem armen Landjuden die
Kenntnis rabbinischer Spitzfindigkeiten erwartet.
Den Gipfel aber nehmen die Witze ein, die jenseits aller
Regeln und Gesetze das Heilige aufleuchten lassen, und aus denen man über Glaube
und Liebe mehr erfahren kann als aus allen theologischen Bibliotheken.
"Unser Rabbi spricht mit Gott selbst." "Das
ist doch nicht wahr!" "Doch. Würde Gott etwa mit einem Lügner sprechen?" - Sagt
dieser Witz nicht alles über das Phänomen des Glaubens aus?
Die Herkunft der Witze
Die Späße der Juden im Mittelalter sind kaum als
spezifisch jüdische Witze zu bezeichnen. Es sind bloß grobe Streiche von Narren
und Albernheiten, wie sie die Deutschen den Bürgern von Schilda andichteten. Die
Juden erzählten damals ähnliches über die Einwohner des Schtetls Chelm. Man
erzählte auch kluge Entscheidungen von Rabbinern - genauer betrachtet sind es
die gleichen Geschichten, die sich Orientalen von ihren Kadis erzählten.
Beliebt waren auch Possen von klugen Juden, die einen dummen
Nichtjuden hereinlegen - es sind genau die selben Possen, welche sich Nichtjuden
mit umgekehrten Vorzeichen erzählten: Dort sind sie es, die den dummen Juden
überlisten. Und die gleichen Geschichten erzählen sich die Armenier über Türken,
die Polen über Ukrainer und die Ungarn über Zigeuner.
Einzelne Berufsstände
und allgemeine menschliche Fehler werden ebenfalls aufs Korn genommen. Das alles
ist jedoch nicht "Jüdischer Witz" im engeren Sinne. Bestenfalls ist es "Witz der
(oder über) Juden".
Erst die besondere neuzeitliche Situation der Juden in Europa,
die nicht mehr die mittelalterliche Naivität und Gottergebenheit besaßen, zwang
sie entweder zur Flucht aus dem Judentum, zur Verzweiflung - oder eben zum Witz.
Und wirklich sind diese Witze zahlreicher, schlagender und tiefsinniger als die
Witze der anderen Völker. Sie weisen ganz andere Variationen auf, als etwa die
Schottenwitze. Sie verspotten nur selten einzelne komische Eigenschaften des
Menschen, sondern stellen oft die gesamte menschliche Situation mit Schmerz und
Bitterkeit in Frage.
Natürlich gibt es daneben auch eine ganze Reihe einfach
pointierter Scherze, die nicht die gesamte Tragweite der hier aufgezählten
Dimensionen in sich bergen. Denn ist jemand gezwungen, ein Instrument dauernd zu
gebrauchen, so kommt er leicht dazu, es fallweise auch zu missbrauchen. Der
waffengewohnte Polizist greift manchmal zu rasch zur Pistole, der witzgewohnte
Jude verfällt auf witzige Formulierungen auch dann, wenn die Situation es
keineswegs erfordert. Aus dieser Haltung heraus entstanden auch eine Menge Witze
ohne viel moralischen Hintergrund.
Themen und Beispiele
Schnorrer
Den Juden ist die Wohltätigkeit ein strenges religiöses Gebot (Mizwa). Der
Witz nimmt daher nicht den Geiz der Reichen, sondern in erster Linie die
Frechheit des Armen aufs Korn, der wie ein Gläubiger auftritt:
Eine jüdische Gemeinde ist so wohlhabend
geworden, dass eines Tages niemand mehr da ist, dem man Almosen geben kann. Man
bestellt sich einen Schnorrer aus Kasrilewke. Dieser wird mit der Zeit jedoch so
frech, dass man ihn zur Bescheidenheit mahnt. Da sagt er drohend: "Ich fahre
sofort nach Kasrilewke zurück! Dann könnt ihr zusehen, an wem ihr eure Mizwes
erfüllen könnt."
Militär
Nur auf den ersten Blick sind die vielen Militärwitze, in denen den Juden
mangelnder Mut vorgeworfen wird, selbstkritisch. Es wäre falsch, aus diesen
Witzen auf die unheroische Haltung der Juden zu schließen. Tatsache ist, dass
die Juden stets mit wilder Entschlossenheit gekämpft haben, wenn sie einen Sinn
in der Idee gesehen haben. Im Altertum, im ersten Weltkrieg, in der Roten Armee
(deren Schöpfer und strategischer Leiter Leo Trotzki übrigens selbst Jude war)
und im heutigen Israel kämpften und kämpfen die Juden mit der Tapferkeit der
Makkabäer. Sofern man sich es aber richten kann, schlägt man sich nicht
freiwillig für Staaten, in denen man rechtlos ist:
Zaristisches Russland. Ein jüdischer Soldat
schreibt an seine Eltern über das Rote Kreuz: "Liebe Mame, lieber Tate! Ich bin
- Gott sei Dank - in Gefangenschaft, hab mich ergeben, und es geht mir also gut.
Schmuel, mein Bruder, liegt im Lazarett. Unsere ganze Mischpoche soll so gesund
sein, wie er es ist."
Berufe
Diese Witze karikieren einen bestimmten Beruf oder professionelle Anomalie.
Der Wirt, der Kutscher, der Schneider, der christliche Gutsbesitzer, der Arzt,
der Heiratsvermittler und der Melamed (Lehrer für Kleinkinder), der seine
Intelligenz immer wieder auf die Stufe eines Rebben zu stellen versucht, sind
die wichtigsten Vertreter:
Schüler zum Melamed: "Wie entsteht eigentlich
der Regen?" "Weißt du, die Wolken sind eine Art von riesigen nassen Schwämmen.
Wenn sie nun bei Wind aneinanderstoßen, dann ist es, wie wenn Schwämme
ausgepresst werden, und dann kommt das Wasser heraus." "Wirklich? Und könnt Ihr
es beweisen?" "Nu - du siehst doch: es regnet!"
Den größten Raum nehmen wohl Witze aus dem kaufmännischen
Milieu ein. Den Juden waren ja Landerwerb und der Zugang zu den meisten Zünften
über Jahrhunderte untersagt. Daher beschränkte sich ihr Broterwerb auf
kaufmännische Tätigkeiten und das Verleihen von Geld.
Levy bestellt schriftlich Ware bei Kohn. Kohn
schreibt zurück: "Solange Sie die alte Rechnung nicht bezahlt haben, muss ich
die Auslieferung Ihrer Bestellung leider zurückhalten." Darauf Levy: "Da ich
nicht so lange warten kann, muss ich anderweitig bestellen. Streichen Sie meine
Order."
Rabbiner
Abgesehen von den Witzen, die die Naivität der chassidischen Wunderrabbis
und deren Anhänger aufs Korn nehmen, stoßt man immer wieder auf Witze, die die
rabbinischen Entscheide in Frage stellen.
"Rabbi, ich habe ein Huhn und einen Hahn.
Schlachte ich das Huhn, kränkt sich der Hahn. Schlachte ich den Hahn, kränkt
sich da Huhn. Welches soll ich nun schlachten?" Der Rabbi klärt (überlegt, denkt
nach) sehr lange und entscheidet: "Schlachte den Hahn!" "Rabbi! Aber da kränkt
sich doch das Huhn!" "Nu - soll es sich kränken."
Von der Verulkung der falschen Interpretation oder des
falschen Entscheides bis zur Verspottung der Sache selbst ist es beim jüdischen
Witz nur ein kleiner Schritt:
Rabbi: "Chaim! Dein Sohn ist ein übler Sünder!
Wo er ein Stück Schweinespeck sieht, beißt er hinein. Und wo er ein junges Mädel
sieht, küsst er sie ab!" Darauf Chaim: "Oj, Rebbe! Er ist nebbich meschugge!"
"Unsinn! Wenn er den Speck küssen und die Mädel beißen würde, dann wäre er
meschugge. So ist er aber ganz normal!"
Heirat und Mitgift
Der Schadchen (Heiratsvermittler) war nicht selten zu seinem eigenen Beruf
ironisch und kritisch eingestellt. Die Vernunftehe, aus welchem Grund auch immer
eingegangen, war zwar die Grundlage seiner Existenz, aber in vielen Witzen
erkennen wir seine ablehnende Einstellung gegenüber dieser Form von "Liebe".
Denn der soziologisch und volkshygienisch wertvolle Verzicht auf die Liebesehe
musste oft unweigerlich in reine Mitgiftjagd umschlagen.
"Sie suchen ein reiches Mädchen? Ich habe für
Sie eines, das sogar sehr reich ist. Und außerdem ist sie eine echte Schönheit
und aus einer feinen Familie. Sie hat nur einen einzigen winzigen Fehler: sie
ist ein ganz klein wenig schwanger."
Der reiche Goldstein genießt einen sehr
schlechten Ruf - man sagt ihm viele Betrügereien nach. Eines Tages meldet sich
ein Schadchen bei ihm: "Ich habe eine glänzende Partie für Eure Tochter."
Goldstein: "Der junge Mann gefällt mir nicht." "Aber Ihr wisst doch noch gar
nichts von ihm!" "Mir genügt, dass er in meine Familie einheiraten will!"
Antisemitismus
Nicht der wirkliche, sondern der eingebildete Antisemitismus bildet die
Grundlage für diese Art von Witzen. Aber der Witz lacht nur am Rande über den
paranoiden Juden. Der ganz und gar nicht komische Hintergrund ist die Tatsache,
dass Juden wegen der unsinnigsten Verleumdungen und Angriffe eine traumatische
Neurose erworben haben. Schließlich leitet ihn das lächerliche Verhalten immer
und überall Antisemitismus zu vermuten. Trotzdem können diese Witze sehr lustig
sein:
"Schmuel, was hast du im Radiogebäude
gemacht?" "Mi-mi-mich u-um die Sch-sch-stelle des A-a-a-ansagers beworben."
"Und? Hast du sie bekommen?" "N-n-nein! Da-das s-sind alles A-a-antisemiten!"
Schöpfung
Der Zweifel an religiösen Tatsachen und an der Richtigkeit der gesamten
Weltordnung durchdringt uns bei dieser Art von Witz. Auch Schopenhauer war der
Auffassung, dass das Nichts besser gewesen wäre als die Welt, so wie sie ist.
Ein Ingenieur kommt in ein polnisches
Städtchen, bestellt beim jüdischen Schneider dort eine Hose. Die Hose wird nicht
rechtzeitig fertig und der Ingenieur fährt weg. Jahre später kommt er wieder hin
- da bringt ihm der Schneider die Hose. Ingenieur: "Gott hat die Welt in sieben
Tagen erschaffen, und Sie brauchen sieben Jahre für eine Hose!" Der Schneider
streicht zärtlich über die Hose: "Ja. Aber schauen Sie sich an die Welt - und
schauen Sie sich an diese Hose!"
LITERATURNACHWEIS:
-
Der jüdische Witz, Soziologie und Sammlung. Walter Verlag,
13. Auflage 1988
-
Jüdische Witze. Dtv München 1963
-
Jüdische Anekdoten und Sprichwörter. Dtv München 1965
-
Als sie noch lachten. Das war der jüdische Witz. Herbig
Verlag 1997
-
Chassidische Geschichten. Fourier Verlag 1996
-
Oj, bin ich gescheit. Löcker Verlag 1996
Noch was zu lachen?
Ojch gesunt kon onschteken!
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