Mit
I.B. Singer in New York:
Verloren in Amerika
Aus der Singer
Biographie von Stephen Tree
Obwohl wir noch nicht weit von Warschau entfernt waren ... kam es mir
vor, als sei ich schon im Ausland. Ich wusste, dass... Warschau, Polen,
der Schriftsteller-Klub, meine Mutter, mein Bruder Mosche... schon in
den Bereich der Erinnerung eingegangen waren.
Es wird eine lange Reise. Er muss - damit der Preis nicht ins gänzlich
Unerschwingliche steigt - über Deutschland fahren, das damals, 1935,
bereits Nazi-Deutschland ist.
Viele Juden haben ihre erste Begegnung mit der Hakenkreuzflagge
beschrieben und den Schock, den diese in ihnen auslöste. Von einer
Regierung zu lesen, die Juden systematisch beschimpft, verfolgt und
erniedrigt, ist das eine; sich ihrem realen Symbol gegenüberzusehen und
ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, etwas anderes. Wir
hatten das Land der Inquisition betreten. Wie bei allen anderen
Inquisitionen blieb die Sonne auch heute neutral. Sie ging auf, und ihr
Licht beschien Balkone, die mit Naziflaggen geschmückt waren. Es war der
siebenundvierzigste Geburtstag des »Führers«.
Ein magischer Moment in Berlin - als im Zugabteil sein Name ausgerufen
wird. Der Reiseagent aus Warschau hat dafür gesorgt, dass sein
eigentlich areligiöser Kunde mit dem vorgeschriebenen ungesäuerten
Matze-Brot versorgt wird. Eine Packung desselben hat sich Singer später,
zur Zeit der acht Tage des Pessachfestes, immer auf den Tisch gestellt.
Ein magischer Moment in Paris, wo er ebenfalls erwartet wird -diesmal von
einem jüngeren Adepten der jiddischen Literatur, der ihn, den Autor des
›Satan in Goraj‹, am Bahnhof empfängt und in Paris herumführt.
Die Überfahrt wird zur Qual. Der arrivierte junge Literat aus Warschau
fallt auf der Schiffsreise in eine tiefe Depression. Er fühlt sich
wieder wie im Rabbiner-Seminar in jeder Hinsicht fehl am Platz, vergisst
die Nummer seiner Kabine, muss sie mühsam suchen, behauptet hartnäckig,
er sei Vegetarier (was er damals noch gar nicht ist), ist sich für den
Koscher-Tisch zu gut, legt sich mit anderen Passagieren an, lässt sich
trotzig den einen, miesen Einzeltisch zuweisen - und kommt sich in
seiner Einzelkabine, einem dunklen, fensterlosen Loch, das an die Zimmer
seiner Anfangszeit in Warschau erinnert, vor »wie eine Seele ohne
Körper«.
Nach fünf Tagen erlöst ihn eine Frau. Er begegnet ihr, in der klassischen
Pose des Überseereisenden, beim Lesen im Liegestuhl, den er sich
schließlich doch gemietet hat, auf dem Promenadendeck. Ende Zwanzig oder
Anfang Dreißig, weiße Bluse, grauer Rock. Dunkler Teint mit Aknenarben.
Einen in Samt gebundenen Gedichtband, ›Fleurs du Mal‹ von Baudelaire, in
der Hand. Singer liest einen Philosophieband von Bergson. Er schenkt ihr
weiter keine Beachtung - in der Annahme, dass sie, mit dem französischen
Buch auf dem französischen Schiff, wohl ohnehin nur Französisch kann.
Plötzlich wendet sich ihm die Liegestuhlnachbarin zu und spricht ihn
in etwas zögerndem Warschauer Jiddisch an. Bergson habe sie auch
schon lange lesen wollen, sei aber nie dazu gekommen. Ich war so
überrascht, dass ich vergaß, verlegen zu sein. »Sie sprechen Jiddisch?«
Die Nachbarin, die seine Zeitung gesehen hat, erzählt ihm ihre
Lebensgeschichte: Ihr Vater war ein frommer Jude, der zur anglikanischen
Hochkirche konvertierte und nun als Missionar in Warschau tätig ist, sie
selbst fühlt sich zwischen alle Kulturen geraten. Die Eltern unterhalten
sich nach wie vor auf Jiddisch, ihr Vater, der Pastor, liest jedes
jiddische Buch. Während man sie, die Tochter des Konvertiten, im
standesbewussten England ausschließlich als Fremde und Ausländerin
wahrnimmt. Ob er ein jiddischer Autor sei?
»Ich versuche, einer zu sein.«
Sie will seinen Namen wissen. Den er ihr nennt.
Worauf sie sich als »Zofia oder Zosia« vorstellt. Bis zu ihrer Taufe habe
sie »Reize Gitl« geheißen.
Er erzählt ihr von seiner Kabine, wo er sich nun sein Essen servieren
lässt - und mit dem Kellner nicht zurechtkommt. Sie fordert ihn auf,
sich an ihren Tisch zu setzen. Der ohnehin halb leer sei. Was er denn
tut. An Zosias Seite bekommt er ein anständiges vegetarisches Essen
vorgesetzt; und als die wenigen anderen Gäste gegangen sind, unterhalten
sie sich wieder in der »Muttersprache« (wie Jiddisch auf Jiddisch
heißt).
»Ich glaube nicht an Wunder, sagte ich, »aber unser heutiges
Zusammentreffen ist für mich ein Wunder.« Das sieht Zosia nicht
anders. Die mit ihren Kabinennachbarinnen, jungen Engländerinnen, nicht
kann, und kein vernünftiges Wort mit jemandem gewechselt hat.
Schließlich ziehen sie sich in Singers finstere Kabine zurück, wo
verblüffenderweise zum ersten Mal ein gutes Essen auf ihn wartet -
einschließlich einer Flasche Wein. Sie bleiben bis ein Uhr früh
beisammen, trinken den Wein und essen den Fruchtsalat. Sie sind nun so
vertraut, dass er ihr von seinen Beziehungen erzählt, von Gina, Stefa,
Lena und Esther.
Nach einiger Zeit fragte ich sie, und sie gestand, noch Jungfrau zu
sein.
Sie erzählt von ihrer großen Liebe, einem katholischen Professor. Der sie
sogar heiraten wollte. Aber dafür hätte sie zum Katholizismus
konvertieren müssen. Und: »Zwei Mal zu konvertieren wäre eben selbst
für eine so Ungläubige wie mich zuviel gewesen.«
Mit dem Professor hat sie es eine Nacht lang versucht - aber ohne Erfolg.
Sie fürchtet, zu ewigem Jungfrauendasein verurteilt zu sein.
»Jemand wird Ihnen den Gefällen tun.«
»Nein, ich werde so ins Grab sinken.«
Als der Dampfer in Manhattan anlegt, holt ihn Israel Joshua am Pier ab. Er
wirkt gealtert, mit einem dünnen Streifen grauer Haare um die
Vollglatze.
Singer hat den Tag der Ankunft, mit vielen Schattierungen und
Einzelheiten, ausführlich geschildert und dabei seine anfängliche
Unbehaustheit in der Neuen Welt vermittelt, die jahrelang anhalten
sollte. Polen, zwischen Hitler und Stalin eingezwängt, unter einem
autoritären Militärregime stark faschisiert, mit einem immer rabiater
werdenden Antisemitismus, war für den Juden und Antikommunisten Singer
alles andere als ein sicherer Aufenthaltsort - darum trieb es ihn ja
weg. Aber es war das Land und die Welt, wo er sich zu Hause fühlte. Wo
er jede Nuance verstand. Mit einer Kultur, die, soweit sie ihn betraf,
ganz selbstverständlich jiddischsprachig war. Nun ist er in einer Welt
angekommen, wo das Jiddische, auch unter Juden, einen ganz anderen
Stellenwert hat: den eines Minderheitendialekts. Dem kein besonders
hoher sozialer Status zukommt. In Polen war er mit seinen
Sprachkenntnissen - Jiddisch, Polnisch, Hebräisch, Deutsch, ein bisschen
Französisch, ein bisschen Russisch - ein gebildeter Mann. Hier ein
ungeschlachtes Greenhorn, das außerhalb seines Sprachghettos auf
Dolmetscher und Vermittler angewiesen ist. Singers Unangepasstheit zeigt
sich in der Kritik der anderen an seiner Kleidung - gewiss seine besten
Sachen, da er bei den Grenzbeamten einen guten Eindruck machen wollte:
Hier trage kein Mensch einen steifen Kragen, einen so schweren Anzug
wie meinen oder einen schwarzen Hut. Auch Westen trage niemand mehr.
Und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als Jackett, Kragen und Krawatte
auszuziehen - eine erzwungene Lockerheit, in der sich Singer befangen
und unfrei fühlt.
Nach einigen scherzhaften Bemerkungen über Singers zu breite Hosenträger
kommt Israel Joshua auf die Zukunft des jüngeren Bruders zu sprechen. Er
werde »so oder so« im Land bleiben. Ein, zwei Jahre werde sich das
Besuchsvisum verlängern lassen »und ich werde alles tun, um dich
davon abzuhalten, zurückzugehen. Drüben wird bald die Hölle los sein.«
In Singers Erinnerungen weist er ihn auch auf die Möglichkeit einer Heirat
mit einer Amerikanerin hin. Was eine versteckte Anspielung auf Runya,
Singers bisherige Lebensgefährtin, gewesen wäre. Beide, Bruder wie
Schwägerin, waren mit Singers Trennung von Runya nicht einverstanden
gewesen, und Singer hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er sich
wegen seiner »Frauengeschichten« vor dem älteren Bruder genierte - ohne
von ihnen lassen zu können oder zu wollen.
Israel Joshua hat einen neuen Roman geschrieben, ›Die Brüder Aschkenasi‹,
der in der polnischen Textilstadt Lodz zu Anfang des Jahrhunderts
spielt; über ein ungleiches Brüderpaar, dessen negativer Held, ein
krankhaft ehrgeiziger, äußert intelligenter, schmaler, sommersprossiger
junger Mann, nur seinen Erfolg im Sinn hat, und äußerlich wie innerlich
an den jüngeren Bruder erinnert. Dass dieser allerdings der eigenen
Frau, die denselben nur aus Familienrücksichten geheiratet hat,
jahrelang vergeblich den Hof macht, um sie auch seelisch für sich zu
gewinnen, muss in Bezug auf das potenzielle Vorbild als künstlerische
Freiheit gelten. Der spannend geschriebene und klar strukturierte Roman,
in dessen Schlusskapiteln der negative Held in immer freundlicherem
licht erscheint, wird ins Englische übersetzt und von Alfred Knopf, dem
amerikanischen Verleger Thomas Manns, herausgebracht.
Doch trotz des beruflichen Erfolges geht es der Familie des Bruders nicht
besonders gut. Alle drei sind nach wie vor von dem vor zwei Jahren
erfolgten Verlust des Ältesten gezeichnet.
Singer berichtet, dass ihn die Schwägerin bei seiner Ankunft nicht mit
einem Abendessen erwartet hat, und dass sie alle bei ihrem Hauswirt
eingeladen waren, dem Bruder eines bekannten jiddischen Literaten -
dessen Kinder kein Wort Jiddisch können.
Auch Israel Joshuas Sohn Joseph, der in Polen mit Polnisch aufgewachsen
ist, spricht nun Englisch, so dass sich sein Onkel kaum mit ihm
verständigen kann. Kenntnisse, die Isaac Bashevis Singer, von dem er
wesentliche Werke übersetzen wird, später sehr zugute kommen werden.
Damals tragen sie mit zur Entfremdung bei, mit der dieser auf seine neue
Umgebung reagiert. Er macht einen Spaziergang - wo er sich prompt
verirrt, was er schon damals auf seine innere Befindlichkeit und nicht
auf die komplizierte Topografie von Seagate zurückführt. Wo er sich denn
unvermittelt wieder zurechtfindet. Er sieht dem Bruder durchs Fenster
bei der Arbeit zu - und kann sich erst jetzt, aus der Distanz heraus,
über seine liebe und Dankbarkeit zu ihm klar werden.
Dann begibt er sich in sein Zimmer und legt sich angezogen im Dunkeln hin.
Ich hatte alle Wurzeln, die ich in Polen gehabt
hatte, ausgerissen und wusste bereits, dass ich hier bis zu meinem
letzten Tag ein Fremder bleiben würde.
Isaac B. Singer:
Autobiographisch gefärbte
Berichte über Auswanderung und Persönlichkeits-entwicklung...
Stephen Tree über
Isaac Bashevis Singer
mit Abbildungen, dtv premium im Großformat,
200 Seiten, Originalausgabe,
ISBN 3-423-24415-1, Euro 14,50 [D] 15,00 [A] sFr 25,20
Hören Sie:
Isaac Bashevi Singers Rede anlässlich der Verleihung des
Nobelpreises 1978 als Audio Dokument (©The Nobel Foundation)
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/ 23-03-05 |